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Berlin als queerer Zufluchtsort

2024-04-1707:54

Axel Schock

In „Queer Exile Berlin“, dem Abschluss seiner Berlinfilm-Trilogie, fokussiert Jochen Hick die Debatten der queeren Communitys aus dem Blick von Migrant*innen, Aktivist*innen und Künstler*innen.

In „Queer Exile Berlin“, dem Abschluss seiner Berliner Dokumentarfilm-Trilogie, fokussiert Jochen Hick die Debatten der queeren Communitys aus dem Blick von Migrant*innen, Geflüchteten, Aktivist*innen und Künstler*innen.

Queere Menschen aus aller Welt haben Berlin zu dem gemacht, was es heute ist. Viele verlassen ihre Heimat, weil sie es wollen, andere, weil sie es müssen

Nun also noch einmal Berlin. Nach „Out in Ost-Berlin (2013) und „Mein wunderbares West-Berlin“ (2017) über den Alltag von Schwulen und Lesben in der geteilten Stadt widmet sich Jochen Hick nun den Nachwendejahren bis in die Gegenwart. Nicht nur die Hauptstadt Berlin, sondern auch die queeren Communitys haben sich in diesen zweieinhalb Jahrzehnten drastisch geändert. Mehr denn je ist Berlin zu einem Zufluchts- und Sehnsuchtsort geworden. „Queere Menschen aus aller Welt haben Berlin zu dem gemacht, was es heute ist. Viele verlassen ihre Heimat, weil sie es wollen, andere, weil sie es müssen“, ist in einer Einblendung zu Beginn von „Queer Exile Berlin“ zu lesen.

Der Filmemacher Jochen Hick konzentriert sich auf jene Menschen, die es aus den unterschiedlichsten Gründen aus dem Ausland nach Berlin verschlagen hat, die sich hier einen Safe-Space und Ort der Entfaltung erhofften. Wie etwa der nicht-binäre Haidar, der noch mit einem Studentenvisum Syrien verlassen konnte, dann um Asyl ersuchte und sich als The Dervish mit Bauchtanz-Performances einen Namen machte. Oder der in Haiti geborene und in New York aufgewachsene Jean-Ulrick Désert, der sich hier als Konzeptkünstler entfalten konnte und die Auseinandersetzung mit Alltagsrassismus in Deutschland zu einem zentralen Thema seiner Arbeiten macht.

Drei Personen beim Tanz mit erhobenen Armen in nahöstlichen Gewändern
Szenenfoto Queer Exile Berlin © Missing Films, Haidar Darwish

Zwischen Hedonismus und Kontroversen

Die erste Szene von Jochen Hicks Kinodokumentation spielt überraschenderweise nicht in Berlin, sondern in einer spanischen Privatklinik. Dort lässt die Portugiesin Eunice Franco eine geschlechtsangleichende Operation vornehmen. Im Laufe des Films wird man ihr nicht nur bei ihren Jobs im Berliner Nachtleben begegnen, sondern auch auf verschiedenen Stationen ihrer Transition. Mit wenigen Blitzlichtern beleuchtet Jochen Hick bereits in den ersten Filmminuten das weite Feld, zu dem sich die queeren Communitys heute entwickelt haben.

In Berlin treten die Debatten und Veränderungen besonders stark und konzentriert auf. Ob der Hedonismus der Partyszene und dem damit eng verbundenen Drogenkonsum, die Souveränität und zunehmende Selbstverständlichkeit, mit der sich Menschen aus der binären Geschlechterordnung lösen oder aber die heftig ausgetragenen, unversöhnlich erscheinenden Debatten. Beim alternativen „Internationalist Queer Pride“ wird einem Lederkerle-Paar von anderen Demonstrant*innen die Israelfahne entrissen. Auf dem Dyke March brüllen lesbische Gegendemonstrant*innen wutentbrannt transfeindliche Parolen. Und „Berlins dienstälteste Drag Queen“, wie sich Gloria Viagra selbst nennt, Berlinerin seit ihrem sechsten Lebensjahr, wird bei einem Livestream in Kreuzberg von jungen Männern als „Hurensohn“ beschimpft und tätlich angegriffen.

Jochen Hick verzichtet sowohl auf die Bewertung dieser Diskurse, Haltungen und Rivalitäten zwischen verschiedenen Kämpfer*innen als auch auf vereinfachende Narrative. Zwar kommt er seinen Protagonist*innen, die er über viele Jahre begleiten konnte, sehr nahe, diese schenken ihm sichtlich viel Vertrauen und er begegnet ihnen mit Empathie. Doch als Filmemacher bleibt er zugleich auf professioneller Distanz. Jochen Hick überlässt es den Zuschauer*innen politische Widersprüche oder auch kleine Lebenslügen zu erkennen. 

Ernüchterung und Herausforderungen

Als ich aus Syrien herkam, hätte ich nicht gedacht, dass ich für meine Grundrechte würde kämpfen müssen

Die Erwartungen an die Stadt und ihre Szene(n), an die viel beschworene Freiheit sind gerade für queere Menschen groß; die Ernüchterung, die Enttäuschungen und Herausforderungen sind es nicht minder. Mischa Badasyan ist armenisch-russischer Herkunft und muss erleben, wie ihn die Szene mit ihren ausgrenzenden Schönheitsidealen wegen seiner Behaarung und Körperfülle ignoriert. Eugenice sieht sich bei Online-Dates zum Trans-Fetisch reduziert. Haidar wiederum erlebt das Asylverfahren als bürokratische Tortur und die Anfeindungen, denen nicht-weiße Menschen und Migrant*innen ausgesetzt sind, als tägliche Bedrohung. „Jeder denkt bei Berlin an einen sicheren Ort, diesen queeren Himmel in Europa“, sagt er auf einer Kundgebung queerer People of Color. Doch in Wahrheit sei Berlin nie sicher gewesen. „Als ich aus Syrien herkam, hätte ich nicht gedacht, dass ich für meine Grundrechte würde kämpfen müssen.“ 

Jochen Hick gibt allen fünf Hauptpersonen in „Queer Exile Berlin“ den nötigen Raum, ihre sehr unterschiedlichen Geschichten zu erzählen und den Zuschauer*innen zugleich die Möglichkeit, ihre Entwicklung mitzuverfolgen und deren Vielschichtigkeit zu entdecken. Der häufige Wechsel zwischen den eng miteinander verwobenen und lebendig montierten Erzählstränge gelingt, ohne dabei die Übersicht zu verlieren. Was die porträtierten Menschen verbindet, sind ihre Energie und die Anstrengung, gegen alle Widerstände ihre sexuelle und geschlechtliche Identität zu ergründen, um einen Platz im Leben zu finden. Berlin ist für sie dafür der passende Ort, bisweilen aber nur eine Zwischenstation.

Person steht auf einem historischen Balkon an das Geländer gelehnt mit dem Rücken zu einem Berliner Platz
Szenenfoto Queer Exile Berlin © Missing Films, Jean-Ulrick Désert

Ein Ort zum Auftanken

Für die Aktivistin Monika Tichy aus dem polnischen Szczecin war „Berlin in den frühen neunziger Jahren das Fenster zur großen Welt“. Dennoch hat sie sich entschlossen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Was es bedeutete, unter der nationalkonservativen Regierungspartei PiS für die Rechte von queeren Menschen auf die Straße zu gehen, vermittelt sich in wenigen, aber drastischen Szenen.

Die friedliche bunte CSD-Demo in Berlin nutzt Monika, um Kraft zu tanken und auf die Situation in ihrem Heimatland aufmerksam zu machen. Sie werde in Polen bleiben, um „die Verwundeten auf diesem großen Schlachtfeld aufzusammeln, das derzeit unser politisches Leben ist“, sagt Monika. Das mag pathetisch klingen, trifft jedoch Monikas kämpferische Lebenshaltung. „15-jährige Queers können nicht einfach wegziehen, wie es mir möglich wäre. Also werde ich für sie dableiben, wenn sie ihre Identität entdecken.“

D 2023, Regie und Buch: Jochen Hick. Mit Mischa Badasyan, Haidar Darwish, Jean-Ulrick Désert, Alyha Love, Eunice Franco, Monika Tichy, Gloria Viagra u. a., 104 min. Kinostart: 18. April 2024. Termine der Kinotour mit Jochen Hick unter www.galeria-alaska.de.

Trailer zum Film „Queer Exile Berlin“

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